Page 30 - 2019_ISGV_Forschungsdesign4.0
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Schmoll \ erbe, altpapier, archiv?







       Michael Simon zusammen mit Thomas Schür-  wurde. Es war vom Zentrum volkskundlich-kul-
       mann in der Zeitschrift für Volkskunde noch un-  turwissenschaftlichen Fachverständnisses eher
       umwunden gewiss: „Ein Kapital für sich – der   an den Rand gewandert.
       Atlas der deutschen Volkskunde“.  Ein Jahr-  2. Was ist der heutige Stand? Was ist zu tun?
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       zehnt später trug er das Anliegen in Frageform   Über vier Millionen in Zettelkästen eingesarg-
       vor: „Kapitel oder Kapital des Faches?“  Kapitel   te Antwortkarten sehen einer ungewissen Zu-
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       könnte bedeuten: Man darf es getrost zuschla-  kunft entgegen. Nahrungsgrundlage von Pa-
       gen, es besitzt allenfalls noch wissenschafts-  pierfischchen und Brotkäfern? Oder aber: Wie
       geschichtlichen Zeugnischarakter. Kapital wür-  sinnvoll, praktikabel oder überhaupt wünschens-
       de dagegen bedeuten: Da ist noch jede Menge   wert wäre mit heutigen Möglichkeiten der Di-
       Aktualität und Potenzial – es wäre allemal also   gitalisierung die Sicherung der Primärdaten
       ein lohnenswertes Unterfangen, die vor fast 80   und ihre Verfügbarmachung für anschlussfä-
       Jahren manuell erfassten Daten auf digitalen   hige (Geo-)Informationssysteme und virtuelle
       Wegen verfügbar zu machen, auch mit den zu   Forschungsumgebungen in Zeiten, da das In-
       erwartenden Internationalisierungseffekten. Wie   teresse an Zusammenhängen zwischen Kultur
       auch immer: Dieses Atlasprojekt hat in den ver-  und Raum neu stimuliert wird? Damit verbun-
       gangenen Jahrzehnten heiße und kalte Stadien   den sind auch ganz andere Probleme, wenn es
       des Vergessens und der Wiederentdeckung, der   um Herausforderungen und Zukunftsentwürfe
       durchaus ambivalenten Einordnung und Bewer-  digitaler Wissensproduktionen geht. Aber viel-
       tung durchlaufen. Zur Diskussion des Problems   leicht ist das ja schon wieder Symptom für die-
       sollen im Folgenden drei Anläufe unternommen   se Zunft volkskundlicher Kulturwissenschaft,
       werden.                              der ja oft und gerne nachgesagt wurde, sie hin-
       1. Um was geht es? Vorausgeschickt wird eine   ke dem Wandel eher hinterher. Obendrein wer-
       knappe Skizze zu den wissenschaftsgeschicht-  den wir gerne den ‚kleinen Fächern‘ zugerechnet
       lichen Hintergründen. Wie angedeutet: Ein Fach-  – nicht aufgrund unserer Studierendenzahlen,
       winzling wie die Volkskunde stemmte im 20.   aber aufgrund unserer Ressourcen und Infra-
       Jahrhundert eines der größten geisteswissen-  strukturen und deshalb auch unseren Möglich-
       schaftlichen Langzeitprojekte der deutschen   keiten. Von daher mag dieser etwas elegische
       Wissenschaftsförderung. In diesem wurde über   Erfahrungsbericht vielleicht doch hilfreich sein
       50 Jahre lang mit den Methoden der Kartogra-  für die Diagnose von Problemlagen und Schwie-
       fie und mit Material aus rund 20.000 Belegorten   rigkeiten, wenn es um den Umgang mit histori-
       inner- und außerhalb des damaligen Deutschen   schen Forschungsdaten und Möglichkeiten ihrer
       Reiches Zusammenhängen zwischen Kultur   Digitalisierung geht.
       und Raum nachgespürt, bevor das Kapitel in   3. Es existieren durchaus widerstreitende, inner-
       den 1980er-Jahren unvollendet zugeschlagen   fachliche Sichtweisen, was der Atlas war und
                                            wie mit seinem Erbe heute umgegangen wer-
                                            den sollte. Es gibt darüber hinaus freilich auch
       4  Simon/Schürmann: Ein Kapital für sich.
       5  Simon: Atlas der deutschen Volkskunde.  Außenansichten – öffentliche Wahrnehmungen.


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