Page 29 - 2019_ISGV_Forschungsdesign4.0
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Schmoll \ erbe, altpapier, archiv?
Alliteration geschuldet sein. Tatsächlich sind die
Bedingungen etwas auskömmlicher, aber eben
weit entfernt von einem dauerhaft passablen
Zustand. In dieser gegenwärtigen Unübersicht-
lichkeit und Unzugänglichkeit lässt sich nicht
tagelang, sondern gleich Wochen und Monate
empirisches Material sichten zur Ausbreitung
des Kaffeetrinkens um 1930, zu schwelenden
Konkurrenzen zwischen Namens- und Geburts-
tag, der Verbreitung des Tabakrauchens bei Lei-
chenfeiern, dem Besprechen von Krankheiten
oder dem Umgang mit der Nachgeburt von
Nutztieren, der Popularisierung moderner kultu-
reller Phänomene wie Schultüte, Muttertag oder
das Anzeigen von Todesfällen via Zeitungsan-
nonce, zu Wetter- und Viehheiligen, der Ge-
schlechteraufteilung bei bäuerlichen Arbeiten,
Klapperstorch, Osterhase, zum Mann im Mond
und vielem anderen mehr. Mit spöttelndem Zun-
genschlag mag sich das nach angestaubten Be-
langlosigkeiten aus den Tagen vor dem „Ab-
schied vom Volksleben“ anhören. Tatsächlich Abbildung 1: Antwortkarten im Archiv des Atlas der
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deutschen Volkskunde in den Räumen der Universität
ermöglicht dieses einzigartige, schwer zugäng- Bonn. (Für die Überlassung der Fotos Dank an Helmut
liche und noch schwerer verwertbare ethnogra- Groschwitz.)
fische Datenmaterial aus den Kindertagen der
empirischen Kulturforschung seltene Einblicke Welchen Sinn macht es, diese methodisch
in Lebenswelten vor deren Kolonialisierung, in schwierigen und ideologisch zumindest nicht
Alltag und Lebensformen aus äußerst dynami- unproblematischen Daten über Wege der Digi-
schen Perioden innerer und äußerer Moderni- talisierung für heutige Forschungsinteressen zu-
sierungsprozesse der ersten Hälfte des 20. gänglich zu machen? Die Existenz des Archivs
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Jahrhunderts. Oder anders formuliert: Wissens- ist zwar (noch) nicht akut gefährdet, aber der
wertes zu Leben, Arbeiten, Lieben und Sterben Zustand ist prekär, zumindest nicht zufrieden-
von Menschen. stellend, in jedem Falle unentschieden. So blei-
Welche Verantwortung trägt das Fach heute ben auch Fragen offen, die seit Jahren immer
für dieses materielle und immaterielle Erbe? wieder aufgeworfen werden. Anno 1994 klang
2 Geiger/Jeggle/Korff: Abschied vom Volksleben. 3 Hierzu auch Groschwitz: Rewriting.
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