Page 72 - 2019_ISGV_Forschungsdesign4.0
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groth \ prinzipielle verfügbarkeit und StrategiSche tranSparenz
produziert werden und ihr Entstehungskontext den Politikwissenschaften eine Hinwendung
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sollte bei der Analyse berücksichtigt werden. zu einer ethnografischen Erkundung politischer
Was in Dokumente bezüglich Form und Inhalt Prozesse beobachten, die Aushandlungsprozes-
einfließt, ist Ergebnis und Gegenstand von Ver- se in Gremien selbst in den Blick nimmt. Wie Do-
handlungen. Prozesse, in denen Text verhan- kumente produziert werden, veranschaulichen
delt und produziert wird, erstrecken sich zudem in diesem Zusammenhang beispielsweise Bir-
auf performative Aspekte wie Stil, sprachliche git Müller und Gilles Cloiseau, Ellen Hertz
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Codes und Register, Rhetoriken oder Genres – oder Ruth Wodak , wenn sie die Verhandlung
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Aspekte also, die in entextualisierter Form in bestimmter Beschlusstexte ethnografisch in
Dokumenten in den Hintergrund treten oder den Blick nehmen und zeigen, wie unterschied-
ganz verschwinden. Durch Videoaufzeichnun- liche Akteure daran teilhaben und wie sprachli-
gen können solche Faktoren zum Teil berück- che Feinheiten zum Gegenstand von komplexen
sichtigt werden, wiewohl auch hier informelle Debatten werden können. Die Analyse von Do-
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Kontexte aus dem Blick geraten. Für Dokumen- kumenten als Verdopplung konkreter Interakti-
te selbst ist dies nicht der Fall. Die Transparenz, onssituationen bleibt in vielen Fällen jedoch eine
die sich präsentiert, ist nur eine scheinbare, die Black Box, die erst über eine differenzierte Kon-
von Politiken des Archivs geprägt ist und keine textualisierung geöffnet werden kann.
Aussagen über Inhalte und Ereignisse jenseits
protokollierter Sitzungen treffen kann. Diese
Erkenntnis ist für das methodische Vorgehen 5. Kontextualisierung von
qualitativ ausgerichteter empirischer Kultur- und Dokumenten
Sozialwissenschaften nicht neu, bedarf jedoch
in dem Sinne eine Erweiterung, dass auch die
Aussagekraft vorliegender Dokumente ohne Es stellt sich die Frage, wie eine solche Kontex-
Kontextualisierung begrenzt ist. Relativ einfa- tualisierung von Dokumenten konkret aussehen
che Inhaltsanalysen, die über das Vorkommen kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang,
bestimmter Begriffe versuchen, Positionen und dass die Illusion der Zugänglichkeit problema-
Interessen von Akteuren aus Dokumenten abzu- tisiert wird, die in vielen Fällen mit der Zugäng-
lesen – zum Beispiel über statistische Analyse- lichkeit von digitalen Dokumenten und ihrer Voll-
software wie das R-Plugin „Wordfish“ – sind in text-Indizierung einhergeht. Damit wird eine kon-
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den entsprechenden Disziplinen selten. Viel eher textualisierende Quellenkritik von Dokumenten
lässt sich in der Europäischen Ethnologie, in der
Sozialanthropologie und immer stärker auch in
43 Siehe den Überblick bei Solomon/Steele:
Micro-Moves; exemplarisch zudem Esguerra: Politics
of Beginning; Deitelhoff: Process of Legalization.
44 Müller/Cloiseau: Real Dirt.
45 Hertz: Excessively Up.
46 Wodak: Conflict to Consensus.
42 Vgl. http://www.wordfish.org. 47 Vgl. hierzu auch Groth: Negotiating Tradition.
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