Fundstück aus dem ISGV – im Oktober 2025
Evelyn Richter – Bilder, nicht auf Lesbarkeit getrimmt
von Benedikt Eggensberger
Dessau ("Elmo"), wsl. 1966, ISGV, Bildarchiv,
BSNR 171118_24-30
„Junge Historiker sollten dankbar sein, sich mit d. Autor unterhalten zu können!“
Mit diesen Worten zitieren Jeannette Stoschek und Linda Conze in ihrem Ausstellungsband „Evelyn Richter“ eine Notiz, die ebendiese auf einer ihrer Fotografien vermerkte. Es ist sehr schade, dass uns dies im Falle Evelyn Richters nicht mehr möglich ist – andernfalls hätte ich im Laufe der 18 Wochen Praktikum, in denen ich einen Teilnachlass dieser beeindruckenden Künstlerin studieren durfte, unzählige Fragen an sie gehabt. So aber bleibt mir nur ein forschender, interpretierender Zugang zu dem, was Evelyn Richter der Nachwelt hinterlässt (bzw. zu der Auswahl an Fotografien aus den 1950er bis 1970er Jahren, mit denen ich mich hier befasse). Ein Glücksfall ist dabei freilich, dass diese Bilder beim Betrachten fast automatisch in einen inneren Dialog verwickeln: Sie werfen Fragen auf, an ihre Gegenstände wie an ihre Entstehung. Im Folgenden werde ich versuchen, einige dieser Fragen zu stellen und zu beantworten. Dabei hoffe ich, dass es genau diese Art von Auseinandersetzung ist, welche Evelyn Richter mit ihrer Fotografie anstoßen wollte: subjektiv, interpretierend und fehlbar.
Zu Beginn des Jahres 2025 erhielt das ISGV einen Teil des Arbeitsnachlasses der Fotografin. Die Fotografien und Kontaktabzüge waren von Richter nie für eine Veröffentlichung gedacht, sie sind mit Notizen versehen, schief zugeschnitten und nur grob sortiert. Dennoch bieten sie einen einzigartigen Zugang zu ihrem gesamten Schaffensprozess, von der Motivwahl über die Bildbearbeitung bis zum Endprodukt. Durchforstet man Evelyn Richters Bilder, stößt man wie bei vielen DDR-Fotograf:innen auf ein „zweigeteiltes Portfolio“: Einerseits musste Richter über Aufträge ihren Lebensunterhalt verdienen, was sie mitunter belastete; andererseits arbeitete sie „für die Schublade“. So fotografierte Richter bei Auftragsarbeiten stets „nebenbei“ in eigenem Interesse das, was sie jenseits der arrangierten Motive sah. Diese Fotografien bilden einen Kontrast zu den propagandistischen Idealbildern ‚des Arbeiters‘ oder ‚der Frau‘ in der DDR – denn Evelyn Richter versuchte gerade dann zu fotografieren, wenn die Portraitierten „nicht hinsahen“, sie keine durchinszenierte Pose oder Mimik einnehmen konnten.
Im Formalismusstreit postulierte die SED, jegliche Kunst müsse sich der „realistischen Entwicklung“ der Gesellschaft unterordnen und ein „wahrheitsgetreues“, gegenständliches Abbild der Wirklichkeit liefern. Mit diesem Postulat aber standen Richters eigenständige Bildvorstellungen in Konflikt, sodass sie ihr Studium an der HGB Leipzig wegen zu „defätistischer“ Porträts von Kommilitoninnen nicht beenden durfte. Eine paradoxe Entscheidung, da es die mit der Parteilinie konformen Fotografien waren, deren Montagen proletarischer Held:innen einen hochgradig inszenierten Scheinrealismus darstellten. Richters Bilder hingegen zeigen (unter vielem anderen) Alltäglichkeiten ohne jede Idealisierung, was sie heute als die deutlich „realistischeren“ Zeitbilder erscheinen lässt.
von L-60 Maschinen der Interflug, zwischen 1964 und 1974,
ISGV, Bildarchiv, BSNR 171016
Jedoch erweisen sich Richters hier betrachtete Lichtbilder nicht als bloß zweckmäßige Instrumente einer Systemkritik. Manche ihrer Aufnahmen scheinen mit der Parteilinie sogar kompatibel. So bilden beispielsweise ihre Fotografien von in Reihe fahrenden Mähdreschern wie auch der „Demonstrationsflugvorführung von L-60 Maschinen der Interflug“ den sozialistischen Fortschrittsgedanken der Agrarindustrialisierung fast schon vorbildlich ab.
Bildarchiv, BSNR 171066
Viele weitere Land(wirt)schaftsfotografien stellen den Menschen – im Sinne des ‚sozialistischen Humanismus‘ das „höchste Gut der Heimat“ (Karl Kneschke) – in den Mittelpunkt, nicht aber in seiner Rolle als planerischer, korrigierender Gestalter. Vielmehr begegnen einem in Richters Bildern Menschen im umfassenderen Sinne, die lachend, grübelnd, müde, gelangweilt oder ziellos dreinblicken, in unmittelbarer Beziehung zu ihrer Heimat, ihren Umständen stehend.
ISGV, Bildarchiv, BSNR 171184a
Das Subversive an Evelyn Richters Bildern besteht daher nicht im Skandalisieren oder Zerschlagen propagandistischer Motive. Vielmehr gehen ihre Fotografien auf Ebenen ein, welche im SED-Narrativ des technisierten Fortschritts schlicht keinen Raum hatten: Alltäglichkeit, Emotion, Adoleszenz, Alter, Geschlechterverhältnisse. Sie legen kleine Brüche „im System“ und seiner Selbstinszenierung offen. Insbesondere das ungleiche Verhältnis von Männern und Frauen im Arbeitsleben der 1960er und 1970er Jahre lässt sich in Evelyn Richters Fotografien erschreckend deutlich nachvollziehen.
„Stillgehaltene Zeit“, der Titel einer Ausstellung Richters in New York und Washington, vermittelt ein Gefühl dafür, mit welchem Blick sie die Themen bearbeitete, die sich als roter Faden durch ihr Werk ziehen: Bilder von „Frauenarbeit“ und „Auszubildenden“ stellen einerseits stets eine spezielle Person oder Beziehung (etwa zwischen Arbeiterin und Maschine) in ihrer Besonderheit dar, andererseits verweisen sie auf ein Allgemeines (die Doppelrolle der Frau in der DDR als Arbeiterin und Hausfrau beispielsweise). So zeigen viele Bilder Frauen, die – in dieser Hinsicht deutlich emanzipierter als die Frauen der damaligen Bundesrepublik – an schweren Maschinen oder in anderen traditionell „männlichen“ Berufen arbeiten. Oft jedoch, auch das zeigen die Bilder, mit schwererem Standing und geringerer Beteiligung in den Betriebsparteiorganisationen (BPO) als ihre männlichen Kollegen.
bzw. „(Dorf-)Krug“), ISGV, Bildarchiv, BSNR 171241
Richters Bilder erschöpfen sich jedoch nicht in der Entzauberung der sozialistischen Idealwelt. Bei heutigem Besehen rufen sie häufig das Gegenteil hervor: Sie entziehen sich einer eindeutigen, zweckgerichteten Bedeutungszuschreibung, und werfen spätestens auf den zweiten Blick Fragen auf – sie verzaubern die von ihnen dargestellte, historische Welt. Was (und oft: wer) wird hier überhaupt dargestellt?
1966, ISGV, Bildarchiv, BSNR 171201a
Ein für mich besonders interessantes, da nicht vollends durchschaubares Beispiel bildet hier eine Serie von Kontaktabzügen aus einem Besteckherstellungsbetrieb. Diese Fotografien stellen ein Stück einer nicht mehr existierenden Welt dar, indem sie auf betriebliche Organisationsformen wie die „Brigade“, aber auch auf Mentalitätsgeschichte verweisen.
Hinter zwei Arbeitern, die einzelne Löffel abschleifen, ist hier ein Plakat zu sehen, das mit „Komplexbrigade Vorwärts“ überschrieben ist. Auf diesem sind wiederum die Schriftzüge „49 JAHRE SOWJETMACHT“ sowie „DER ERSTE ROTE MARSCHALL“ zu erkennen. Die darunter aufgeklebten Fotos sind auf den kleinen Abzügen kaum zu erkennen, sodass sich die Frage stellt: Welcher Person wurde hier gehuldigt?
Laut des Technikhistorikers Thomas Hänseroth wäre es denkbar, Leo Trotzki als „ersten roten Marschall“ zu bezeichnen, da er die Rote Armee gegründet hat und ihr maßgebender Organisator in den ersten Bürgerkriegsjahren war. Jedoch ist Trotzkis Andenken Stalin zum Opfer gefallen: er sei in der DDR als Marx-Revisionist und Vertreter von aus DDR-Sicht kruden ideologischen Vorstellungen eine „Unperson“ und keineswegs präsentabel gewesen, was diese Möglichkeit unplausibler macht. Das schemenhaft erkennbare Porträt gleicht vielmehr den in der DDR gängigen Darstellungen Wladimir Iljitsch Lenins, der womöglich im übertragenen Sinne, aufgrund seiner Verdienste in der Oktoberrevolution 1917, als "erster roter Marschall" bezeichnet wurde. Eine eindeutige Antwort bleibt uns Richter hier jedoch schuldig.
Fraglich ist auch, welcher Betrieb überhaupt porträtiert wurde; Das konnte bisher weder durch systematische Brigadeverzeichnisse noch durch VEB-Auflistungen geklärt werden, zumal bei Engpässen auch kurzfristig fachfremde Betriebe bspw. zur Besteckherstellung verdonnert werden konnten. Auch fragt sich: Warum fotografierte Richter das Wandplakat mit dem 49-jährigen Jubiläum ab? Wollte sie das Erinnern dokumentieren?
In der DDR herrschte eine regelrechte „Erinnerungswut“. Ihre Abbildung erlaubt uns in diesem Fall, eindeutig zu erkennen, in welche Zeit wir zurückreisen: das fotografierte Banner „17 Jahre DDR“ zeigt an, dass es sich um das Jahr 1966 handeln muss – und versichert, dass mit „49 Jahre Sowjetmacht“ nicht auf die Gründung der Sowjetunion 1922, sondern die Oktoberrevolution 1917 abgehoben wird. So erzählt die Fotoserie auch von einem Geschichtsbewusstsein, das sich wesentlich von dem heutigen unterscheidet. In der DDR, wurde nicht nur jedes Staatsjubiläum gefeiert, auch musste jeder (!) Jahrestag der ‚Großen Sozialistischen Oktoberrevolution‘ 1917 „bis zum Überdruss“ (Hänseroth) gewürdigt werden. In der heutigen BRD finden wir weder eine historische Person noch ein geschichtliches Ereignis, die bzw. das so unerbittlich in unserem kollektiven Gedächtnis verankert wäre, dass ein:e jede:r aus dem Stegreif die „Jahre seit“ beziffern könnte – am nächsten käme einer solchen Erinnerung womöglich das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.
Eine von Richters Brigadebildern angestoßene Reise ins Jahr 1966 erinnert uns nicht nur an eine Welt, die es so nicht mehr gibt, sondern auch an die Kontingenz von Geschichte: In der BRD wurde 1966 die wirtschaftspolitische Wende zum zwischenzeitlichen Keynesianismus eingeleitet, in der DDR wurde das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖS) vertieft und somit die Grundlage für die Machtübernahme Erich Honeckers geschaffen. Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler wagt die These: „Wäre 1967 die Einheit Deutschlands – ebenso überraschend wie 1990 – zustande gekommen, dann wäre auf Grund des geringen ordnungspolitischen Abstandes für die DDR nicht nur die ökonomische Anpassungsaufgabe geringer gewesen, sondern es hätte auch viel eher mit einem ordnungspolitischen Entgegenkommen der westdeutschen Seite gerechnet werden können, an Stelle eines Anschlusses des DDR- an das BRD-Wirtschaftssystem.“
Evelyn Richters Fotografien halten im wahrsten Wortsinn ein Stück Zeit still: An ihnen lassen sich Übergang, Wandel und Alltag, aber auch Möglichkeit und Unmöglichkeit einer Zeit nachempfinden – mit dem Fokus auf denjenigen Subjekten, die in ihr lebten. Am genialsten erscheinen mir dabei jene Bilder, die von sich aus nichts Verschwörerisches, Hintergründiges verraten – und bei denen doch subtil spürbar ist, dass die Situation einen Riss aufweist oder etwas nicht direkt Sagbares in sich trägt. Es scheint, als habe Evelyn Richter selbst in den durchinszenierten Gegenständen und Konstellationen, die sie für Magazine wie „Für Dich“, „Sibylle“ oder die „Junge Welt“ abbilden sollte, mehr sehen können als ihre Auftraggeber. Ihr scharfer und zugleich empfindsamer Blick ist beim Ansehen ihrer Fotografien spürbar und lässt mehr erkennen als einen ‚cleanen‘ Gegenstand. Es sei jeder und jedem ans Herz gelegt, die Fotografien Evelyn Richters näher zu betrachten, und sich von ihnen zu allen möglichen Fragen verleiten zu lassen – wohin diese auch führen mögen, ob in eine wissenschaftliche Betrachtung oder in ein subjektives Hineinversetzen. Anlass geben ihre Bilder zu alledem genug.