Fundstück aus dem ISGV – im Dezember 2025

Spielen in der DDR oder: eine Reise durch das verschwundene Land Sachsen

von Henrik Schwanitz

Brettspiel „Eine Reise durch Sachsen“,
VEB Kartonagen- und Bürobedarf
Karl-Marx-Stadt, 1965

Das letzte Fundstück des Monats aus den Sammlungen des ISGV schaut im Dezember auf ein Objekt der DDR-Alltagswelt, das die Themen Spielen und Reisen in der sozialistischen Gesellschaft berührt und dabei Überraschendes bereithält:

Im Fokus steht das Brettspiel „Eine Reise durch Sachsen“, das 1965 durch den VEB Kartonagen- und Bürobedarf Karl-Marx-Stadt herausgegeben worden ist. So weit, so nüchtern, mag man meinen. Doch sowohl Spiel als auch Herausgeber sind bereits interessant, handelte es sich doch bei dem vom Namen her unscheinbaren VEB Kartonagen- und Bürobedarf zum einen um den 1952 gegründeten Nachfolger des Chemnitzer Brückner-Verlags. Dieser hatte in den 1930er- und 40er-Jahren Brettspiele produziert und vermutlich bereits 1941 mit „Eine Reise durch Sachsen und den Sudetengau“ ein ähnliches Spiel vorgelegt. Zum anderen entwickelte sich aus dem VEB wenig später der in der DDR für seine Familienspiele bekannte und beliebte VEB Spielewerk Karl-Marx-Stadt, kurz SPIKA, dessen Spiele seit 2016 sogar wieder eine Renaissance erleben.

Das Spielprinzip ist einfach: Bis zu sechs Personen bewegen sich mittels eines Würfelwurfs auf dem Spielbrett, das einer Landkarte Sachsens nachempfunden ist. Die Bewegung findet dabei entlang der nummerierten Städte statt. Start und Zielpunkt ist Dresden. Wer die damalige Bezirkshauptstadt zuerst erreicht, ist Sieger. Die Spielanleitung verspricht dabei eine Reise durch das vielgestaltige Sachsenland, die durch die zerklüftete Felsenwelt der Sächsischen Schweiz, in das Zittauer Gebirge, durch die waldreichen Gebiete des Erzgebirges und des Vogtlands, die von tiefeingeschnittenen Flußtälern unterbrochen werden, führt.

Brettspiele „Eine Reise durch Sachsen und den
Sudetengau“, 1941 und „Eine Reise durch
Sachsen“, 1965

Was das Spiel nun besonders interessant macht, ist seine Gestaltung, die mehr bietet als lediglich die Hintergrundfläche eines gemütlichen Familienabends. Dies verdeutlicht schon der Deckel des Spiels, gerade wenn man diesen mit dem Vorgänger „Eine Reise durch Sachsen und den Sudetengau“ vergleicht. (Abb. 2) Das Brückner-Spiel zeigt eine romantische Dampferpartie durch das Elbtal in der Sächsischen Schweiz. Die Wiesen, Wälder, Felsen und Felder bilden den Kern der visuellen Gestaltung mit dem Lilienstein und der Barbarine als markante und auch überregional bekannte Landschaftsmerkmale.

Auch die DDR-Adaption nimmt die Darstellung einer Dampferfahrt durch das Elbtal im Elbsandsteingebirge auf, allerdings tritt neben die abstrakter gestaltete Natur nun auch der Mensch und mit ihm auch die Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft: Ein Schnellzug braust entlang der Elbe, an deren Ufern blaue FDJ-Fahnen wehen und aufgestellte Zelte auf die Freizeitbetätigung der Jugend verweisen. Mit der Darstellung von Brücken, Dampfern, Schleppkähnen und Ruderbooten wird ein realistischeres Bild der Elblandschaft als bei seinem NS-Vorläufer gezeichnet. Auffällig ist zudem, dass der Künstler eine Straße in das Bild einfügte, die so nicht im Landschaftsbild zu finden ist. Dies könnte auf die damals noch diskutierten Pläne zum Bau einer Panoramastraße als Teil eines künftigen Nationalparks Sächsische Schweiz verweisen.

Spielbrett „Eine Reise durch Sachsen“, 1965

Nimmt man nun den Deckel ab, so entdeckt man auch in der 1965er-Version ein aufklappbares Spielbrett, das ebenfalls eine Karte Sachsens zeigt. Allerdings begrüßen jetzt ein Stahlarbeiter, eine LPG-Bäuerin, eine Traktoristin sowie ein Wismut-Kumpel die Reisenden. Die auf der Karte dargestellten Städte sind grafisch mit Landschaftsmerkmalen, Kulturdenkmälern, aber auch Industrieprodukten oder bestimmten Freizeitbeschäftigungen verbunden und somit identifizierbar. So wird Dresden etwa sowohl durch den Zwinger als auch durch die Zigarettenindustrie repräsentiert. Der sächsische Raum sollte also ausdrücklich nicht nur als Natur- und Kulturlandschaft erfahrbar sein, sondern auch als Industrielandschaft.

Dies setzt sich in der Spielanleitung fort, wo die Spieler Informationen zu den jeweiligen Orten finden und neben kulturgeschichtlichen Hinweisen auch die prägenden Industriezweige verzeichnet werden. Bezüglich Pirnas heißt es etwa: an der Elbe, 700jährige Stadt, das Eingangstor zur Sächsischen Schweiz. Industrie: Kunstseidenspinnerei, Zellulosefabrik, Sandsteinindustrie. Natürlich dürfen politische Einfärbungen nicht fehlen, etwa bei Oelsnitz im Erzgebirge und dem benachbarten Lugau: Im Untertagebau bis zu 1000m tiefen Stollen schürfen die Kumpels Steinkohle, den wichtigsten Grundstoff für unsere chemische Industrie. Hier brachte Adolf Hennecke die Aktivistenbewegung zum Durchbruch. Dabei wurde auch der Wandel, der sich auf sächsischem Boden durch die Etablierung der sozialistischen Gesellschaft vollzogen hatte, den Spielenden deutlich gemacht: Von den Höhen grüßen Burgen und Schlösser, welche einst als Herrensitze in harter Fronarbeit von den Arbeitern und Bauern erbaut wurden und heute als Erholungsstätten für Werktätige dienen oder als Heimatmuseen das Studium alter Kulturgüter fördern.

Mit diesen Informationen versehen, konnten sich nun die Spieler durch Sachsen bewegen und die sächsische Geschichte, Natur und Industrie kennenlernen. Dementsprechend hatte das Spiel einen pädagogisch-politischen Charakter, wollte es doch, wie auch die Anleitung verrät, die Heimatliebe sowie die Freude am Reisen und Wandern anregen und zur Vertiefung der Kenntnisse der nationalen Kulturdenkmäler beitragen.

Doch was ist nun, so mag man fragen, das Überraschende? Das Aha-Erlebnis stellt sich vor allem dann ein, wenn man mit einem landesgeschichtlichen Blick auf das Spiel schaut. Denn das Land Sachsen, das man spielend bereisen konnte, existierte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits seit dreizehn Jahren nicht mehr. Sächsische Geschichte und sächsische Identität waren staatlicherseits in den Hintergrund gedrängt worden. An die Stelle Sachsens waren seit 1952 die drei Bezirke Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt getreten. Diese Neuordnung des Raumes findet sich auf dem Spielbrett jedoch nicht wieder. Vielmehr zeigt sich hier noch ganz die Karte des alten Sachsens. Nicht zuletzt trägt das Spiel den Namen „Sachsen“ prominent im Titel und auch die Anleitung spricht vom vielgestaltigen Sachsenland. Die Bezirke spielen in der Darstellung überraschenderweise keine Rolle.

Das Brettspiel „Eine Reise durch Sachsen“ ist somit Vieles: Zum einen ist es ein Spiel, das man in der Gemeinschaft, in der Familie spielen konnte und das die Entdeckerlust an der näheren Heimat wecken sollte. Zum anderen hatte das Brettspiel damit auch einen politischen Zweck, sollte es doch dazu dienen, der Heimat „DDR“ eine regionale, kleinräumige Basis zu verleihen, die spielerisch erlebt und entdeckt werden konnte. Dabei sagt dieser kleinräumige Bezug auch etwas über das Reisen in der DDR aus. Führten Reisespiele aus der frühen DDR noch in die Städte Europas, nach Paris oder Rom, so mussten die Spieler bei „Eine Reise durch Sachsen“ mit Ebersbach, Altenberg oder Mittweida Vorlieb nehmen. Das Spiel reiht sich damit in die vielfältigen Versuche ein, der Bevölkerung angesichts der beschränkten Reisemöglichkeiten nach dem Bau der Mauer nicht nur Erholungsorte im Nahraum zu schaffen, sondern diese auch aktiv zu bewerben.

Details des Spielbretts „Eine Reise durch Sachsen“, 1965

„Eine Reise durch Sachsen“ bildet schließlich – mit Maren Röger gesprochen – einen „kartonierten Möglichkeitsraum“, sächsische Geschichte, Natur und Kultur – gerade auch vor dem Hintergrund der Nicht-Existenz des Landes Sachsen – darzustellen und mit den ideologischen Bildern und Errungenschaften der neuen sozialistischen Zeit zu verbinden. Auf diese Weise ist es nicht nur ein geselliges Brettspiel, sondern steht gleichsam für spezifische Aspekte der Alltagskultur und deren politisch-ideologische Durchdringung in der DDR, aber eben auch der Sichtbarmachung sächsischer Geschichte und Identität in dieser Zeit.

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