Fundstück aus dem ISGV – im Juli 2025

Von Vergessen und Fehlsendungen – Mahnungen aus der Bibliothek des Dresdner Volkskundeinstituts

von Katrin Mai

Mit dem Siegeszug des Internets verlor das Lesen als Hobby auch in Deutschland nach und nach an Beliebtheit. Laut einer Studie der BAT Stiftung für Zukunftsfragen 2024 schafft Lesen nicht einmal mehr den Einzug in die 22 Positionen aufführende Rangliste der beliebtesten Freizeitaktivitäten, während es sich um 1990 noch in den Top 10 fand. Außerdem auffällig ist das damalige deutliche Gefälle zwischen den beiden Teilen Deutschlands: Während sich 1992/93 in den alten Bundesländern knapp die Hälfte der Studienteilnehmenden der Stiftung Lesen als viellesend bezeichneten, waren es in den neuen Bundesländern satte 66 Prozent. Die DDR war, ganz nach dem Bestreben der Staatsregierung, „Leseland“.

Statistisches Bundesamt (Destatis): Durchschnittlicher Zeitaufwand für das Lesen, 2025

Dafür sorgte auch ein staatlich reich gefördertes, gut ausgebautes Netz an Bibliotheken. Es umfasste sowohl die Volksbüchereien als auch die Universitäts- und Fachbibliotheken von Seminaren und Instituten, wie hier beispielhaft der Bibliothek der Dresdner Forschungsstelle des Instituts für Deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Dieses Netz war vor allem im Hinblick auf den Mangel an gewissem Lektürestoff notwendig. Neben Westliteratur aller Art waren davon auch ältere Bücher und Periodika betroffen, die durch Kriegsverluste –Zerstörung u. a. bei Bombardierungen und Bränden, aber auch Plünderungen – antiquarisch beschafft werden mussten. Für die Wissenschaft war und ist die Versorgung mit Forschungsliteratur essenziell, weshalb die eingeschränkten Anschaffungsmöglichkeiten in der DDR aufgrund des Devisenmangels ein ernsthaftes Problem darstellten. Das Bestellvolumen für Literatur aus dem nichtsozialistischen Ausland wurde durch ein „Westkontingent“ bestimmt, welches dem Dresdner Volkskundeinstitut von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zugeteilt wurde, der es ab 1954 unterstellt war. Die Dresdner Bücherwünsche mussten in der Regel begründet, bis zu einem gewissen Zeitpunkt eingereicht und dann noch in Berlin genehmigt werden.

Wo immer möglich, wurde das Kontigent durch Schriftentausch mit westlichen Institutionen geschont. Eine rege genutzte Option war der Fernleihverkehr der Bibliotheken und Institute untereinander. Doch nicht immer fand die geliehene Literatur den vorgesehenen Weg oder gar zum vereinbarten Zeitpunkt zurück. Leihgebende wie auch Leihnehmende mussten sich in Geduld und Zuversicht üben, wie einige eindrückliche Beispiele aus der Bibliothekskorrespondenz der Institutsüberlieferung (AIfV) zeigen.

Ganze elf Seiten umfasst die Liste der fehlenden Bücher aus dem Berliner Bestand Kulturgeschichte/Volkskunde, nach denen in einem Rundschreiben vom 12.03.1985 gefahndet wurde. Alle Mitarbeitenden der angeschriebenen Institutionen mussten mit Unterschrift bestätigen, die Liste eingesehen zu haben. Über den Erfolg der Aktion geben die vorliegenden Unterlagen leider keine Auskunft.

Mahnbrief der Dresdner Institutsbibliothek
an eine säumige Entleiherin, 12.04.1978
(ISGV, AIfV, K70/M11)

Wie scharf der Ton werden kann, wenn Bücher nicht zurückgegeben werden, zeigt ein Brief an eine säumige Journalistin. Entgegen jeder schriftsprachlichen Höflichkeitsform wurde in diesem Ausnahmefall auf die Formalität der Anrede verzichtet, sondern direkt das Ende jeglicher Toleranz zum Ausdruck gebracht: „Es ist schwer vorstellbar, mit welcher Ignoranz Sie all unsere Briefe (auch Einschreiben) einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Da die von Ihnen entliehene Literatur von uns dringend benötigt wird und Sie nicht bereit sind selbige zurückzugeben, sehen wir uns genötigt, Rechtsbeistand in Anspruch zu nehmen.“ (Brief vom 12.04.1978, ISGV, AIfV/K70/M11) Diese vorerst irritierende Formlosigkeit begegnet in diesem Leihverkehr mehrfach und wird nachvollziehbar. Denn von Institutsseite gingen zuvor schon mindestens drei – höfliche! – Anschreiben an die Journalistin, wie die sonstigen zum Vorgang erhalten gebliebenen Briefdurchschläge belegen. Zudem geht aus einer Quittung hervor, dass die Entleihe mehr als sechs Jahre zurücklag. Bemerkenswert ist diese einzig erhalten gebliebene Quittung auch aufgrund ihres absolut informellen Charakters: das Papier ist ein Teil eines als Briefumschlag weiterverwendeten Typoskripts, Details zur Entleiherin wurden quer zum restlichen Text ergänzt. Immerhin geht aus der Unterlage auch hervor, dass zumindest das Buch am 21.12.1979 den Weg zurück ins Institut fand – anderthalb Jahre nach dem Mahnbrief, nach guten acht Jahren „Lesezeit“.

Ein häufiger Grund für verzögerte Buchrückgaben lag im postalischen Fernleihverkehr. Neben dem klassischen Postverlust kam es auch zu ungenauen oder gänzlich falschen Adressierungen. Nicht selten wurden Bestände aus Dresden der bekannten Landesbibliothek statt dem kleinen Volkskundeinstitut zugeordnet. Genau wie heute wurden auf dem Postweg verlorengegangene Sendungen dann mittels Nachforschungsauftrag gesucht – zumeist erfolgreich.

Erst 1982 konnte ein Buch selbst dadurch nicht aufgefunden werden. Das Institut musste daraufhin bei seiner „Leitbibliothek“, der Sächsischen Landesbibliothek, anfragen, wie mit unauffindbaren Literatursendungen umzugehen sei. Der Entleiher, in diesem Fall die Stadt- und Kreisbibliothek Malchin, sollte das Buch bei einer anderen Bibliothek fernleihen, um es dann „fotomechanisch vervielfältigen“ zu lassen. Die gebundenen Kopien sollten dem Institut als Ersatz zugestellt werden, was offensichtlich geschah, bevor doch noch das Original wieder aufgefunden wurde (AIfV/K70/M11).

ISGV-Bibliotheksregal mit Buch von
Hans Zimmer: Signaturen der Volksmedizin, 2025

Heute steht es in Reih und Ordnung in der Institutsbibliothek – und Forschenden und Interessierten zur Verfügung. Überzeugen Sie sich gerne vom reichhaltigen Bücherangebot über unseren Bibliothekskatalog – oder kommen Sie nach Anmeldung persönlich vorbei!

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