Fundstück aus dem ISGV – im Juli 2022

Heckklappenfolklore – eine vom Verschwinden bedrohte öffentliche Kunstform

von Sönke Friedreich

Trotz Klimakrise und Verkehrswende, trotz der allseits beschworenen Abkehr von fossilen Energieträgern und des Übergangs vom Verbrennungs- zum Elektromotor ist das Auto bis heute nicht nur zentrales Alltagswerkzeug der spätmodernen Gesellschaften, sondern auch Imageträger und Instrument der Selbstdarstellung. Jenseits des massiven Marketings der Autohersteller werden Pkws in vielfacher Weise von ihren Besitzer:innen angeeignet und individuellen Bedürfnissen angepasst. Dies kann von der Lackierung über das aufwändige Tuning bis hin zur Bestückung der Hutablage reichen. Eine heute klassisch zu nennende Modellierung besteht in der Beschriftung der Karosse, vorwiegend des Fahrzeughecks, mit kurzen Namen, Begriffen, Stich- und Sprichworten, Slogans und Meinungsäußerungen, durch die das Fahrzeug mit seinem/r Halter:in hybridisiert wird: ich bin mein Auto.

Die individuellen Ausschmückungen sind eine Steigerungsform des bumper stickers, des oft in hohen Auflagen hergestellten Autoaufklebers, mit dem der/die Fahrer:in bevorzugte Marken, politische Einstellungen, weltanschauliche Überzeugungen und territoriale Zugehörigkeiten als die eigenen definiert. Als eine Erscheinung der Massenmobilisierung nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die USA als das am stärksten motorisierte Land der Welt zur Wiege des Autoaufklebers. Im deutschen Sprachraum ist dieses Phänomen weniger stark verbreitet – ob die Bewertung des Autos als unbefleckt zu erhaltendes Prestigeprojekt hier mit der stärkeren Betonung des Gebrauchswertes in Amerika kontrastiert, muss Spekulation bleiben. Immerhin kann die Beschriftung auch Teil wahrer Autokunst sein – in der Tuning-Szene gibt es zahlreiche Beispiele (s. z. B. https://www.motorwaldviertel.at/auto/autosprueche/index.html). Im Alltag begnügt man sich hierzulande dagegen zumeist mit einer verzagt-versteckten Individualisierung in der Auswahl der Nummernschilder (Initialen des/der Besitzer:in, rechtsextreme Nummerncodes) oder allenfalls einem munteren Zeichen von Elternstolz („Noah on tour“) bzw. dessen Zurückweisung („Kein Balg mit Scheissnamen on board“). Die seit Jahren zunehmenden politischen Spannungen und culture wars haben allerdings hierzulande die Heckscheiben wieder zunehmend zu Präsentiertellern gemacht.

Ein ausgefeilterer automobiler Heckschmuck hat seinen Ort primär in der Jugendkultur, was angesichts der Verheißung des eigenen Autos als Emanzipationsinstrument und Statussymbol auch wenig verwundert. Beispiele finden sich etwa im Parkraum bei Berufsschulen, auf Großraumparkplätzen bei Einkaufszentren und an anderen Orten, die als Treffpunkt der (männlichen) Jugendlichen dienen. Die hier gezeigten Bilder wurden im Winter 2008 im Umfeld des BSZ für Technik „Gustav Anton Zeuner“ an der Gerokstraße in Dresden-Johannstadt gefertigt, eine Momentaufnahme adoleszenter Kreativität mit teils humoristischem, teils aggressivem Zungenschlag.

Die schöpferische Kraft ist heute, beinahe 15 Jahre später, zwar noch nicht versiegt, sie hat sich aber deutlich verlagert: Das Internet, die Verbreitung des Smartphones und die Expansion der social media haben neue (virtuelle) Orte des knappen Selbstausdrucks gefunden, etwa im Meme oder TikTok-Clip. Die Heckklappen der Jungmotorisierten dagegen bleiben – so der Befund kursorischer Wahrnehmungsspaziergänge an automobilen Hotspots – heute zunehmend frei von den nicht selten rätselhaften Kreationen der Autoliebhaber:innen: Ein Zeichen des raschen Wandels jugendkultureller Ausdrucksformen, der Mobilität und der Medienlandschaft, zugleich aber ein bedauerlicher Verlust einer provokant-unterhaltsamen kulturellen Ausdrucksform.

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