Fundstück aus dem ISGV – im April 2024

Ostdeutsche Migrationsgeschichte(n) und (Forschungs-)alltag – Oder warum Fundstücke (nicht) nebenbei geschrieben werden

von Nick Wetschel

Mit der Reihe Fundstücke aus dem ISGV ist eine grundlegend simple Idee verbunden: Wir können damit regelmäßig kleine Schätze aus unseren Sammlungen präsentieren. Oder wir teilen Beobachtungen und Erlebnisse aus unserem Forschungsalltag. Eigentlich ganz einfach anzugehen.

Manchmal finden sich die späteren Fundstücke beiläufig. Dann taucht ein Dokument oder Bild bei der Erschließung von Beständen auf und es entsteht unmittelbar oder bald darauf ein Gedanke, was für Fragen sich daran stellen lassen und was sich zeigen lässt. Oder wir sehen oder tun etwas in unserem (Arbeits-)Alltag, das wir für im besten Sinne merk-würdig oder bemerkenswert halten. Manchmal sind die Fundstücke auch im Voraus geplant und begleiten den Jahreslauf mit seinen Festen und Bräuchen oder den erinnerungskulturellen Kalender. Bisweilen geht es uns darum, auf Angefangenes oder Abgeschlossenes hinzuweisen. Jeweils versuchen wir fachlich auf diese Fundstücke zu schauen und trotzdem einen Ton zu treffen, der es für möglichst viele Menschen nicht nur interessant, sondern auch unterhaltsam macht.

Das Fundstück im April ist eine Kombination aus diesen Idealtypen. Es macht also einen der Wege nachvollziehbar, auf denen ein Fundstück-Text entsteht – und es blickt auf Aspekte ostdeutscher Migrationsgeschichte(n).

Begonnen hat alles als ein geplantes Fundstück: Im Monat Februar 2024 würde das Projekt ‚MigOst. Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen‘, dessen gesammelte (Interview-)Daten im Lebensgeschichtlichen Archiv für Sachsen (LGA) aufbewahrt werden, feierlich beendet werden. Anlass genug also für eine kompakte Bilanz. Zudem würde das Anschlussvorhaben ‚Archiving MigOst‘, in dem die Selbstarchive der sich seit dem Umbruch 1989/90 gründenden Organisationen von/für Migrantinnen im Zentrum standen, auch kurz vor dem Abschluss stehen: das Fundstück als Möglichkeit für einen exemplarischen Einblick in das gesichtete Material.

Nick Wetschel: Plakat ‚Enkel von Flüchtlingen, Dresden, 2024
Nick Wetschel: Plakat ‚Enkel von Flüchtlingen, Dresden, 2024

Und noch das erste Februarwochenende bot einigen Anlass zur Annahme, dass es im selben Monat ein Fundstück mit dem breiten Thema von Migrationsgesellschaft in Ostdeutschland geben würde. So war auf einer Demonstration, die am Samstagnachmittag auf dem Dresdner Theaterplatz stattfand, ein Plakat zu sehen, auf dem sich zwei Teilnehmer der Kundgebung als ‚Enkel von Flüchtlingen‘ bezeichneten. Sie verwiesen damit auf eine Migrationsgeschichte, die viele Familien in Deutschland betrifft, nämlich die millionenfache Flucht zu und nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Hinweis auf diesen Herkunftsaspekt der Großeltern geschah nicht ohne Anlass, denn die Demonstration richtete sich gegen die kurz zuvor unübersehbar bekannt gemachten Pläne u.a. von Mitgliedern der AfD, Menschen des Landes zu verweisen, die zwar Staatsbürgerinnen sind oder seit Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben – deren Zugehörigkeit jedoch qua Familiengeschichte und Abstammungsvorstellungen verworfen wurde.
Mir schien das wert, fotografiert zu werden. Denn einmal war mit dem Verweis auf den Komplex Flucht und Vertreibung nicht nur die zahlenmäßig bedeutendste Migrationsbewegung nach Ostdeutschland sowie gewissermaßen der Auftakt zu einer Migrationsgeschichte – und auch Ablehnungsgeschichte – nach 1945 gegeben. Gleichzeitig fiel mir das Plakat hinsichtlich der Frage auf, wie Migration(en) denn thematisiert werden. In diesem Falle gerade auch deshalb, weil sich zeigt, wie ‚Migration‘ in (neue) Kontexte gesetzt wird, wie (historische) Bezüge und Vergleiche zu Argumenten werden.

Derselben Frage nach dem Wandel von ‚Migration‘ – nun aber in Quellen und nicht im gegenwärtigen Alltag – nachgehend, fiel mir am selben Samstagabend in einer 1991er-Ausgabe der Zeitschrift PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft ein Satz ins Auge, der einen Bogen von Sachsen über Mosambik bis auf den amerikanischen Doppelkontinent spannt. Darüber reflektierend, wie die wahrgenommene Bedrohung durch ‚Migration‘ von sozialen Lagen abhängen mag, hieß es damals: ‚‚Im prosperierenden Kalifornien […] sind die mexikanischen Wanderarbeiter für die dort seltenere Spezies armer Kalifornier europäischer Abstammung eine reale Bedrohung. Für den arbeitslosen Sachsen erweckt der asylsuchende Mosambikaner dieselbe Furcht.‘‘ Unabhängig davon, welchen Stellenwert der (relativen) sozialen Situation zuzumessen ist, wenn es darum geht, Furchtempfinden und Bedrohungserzählungen zu erklären, fallen die Figuren des arbeitslosen Sachsen und ihm gegenübergestellt des asylsuchenden Mosambikaners auf. Die Konstruktion ist einfach: Hier der in der deutsch-deutschen Aushandlung über Einwanderung und so genannten Rechtsextremismus zum Stereotyp geronnene Fremdenfeind (Quellensprache!) aus Existenzangst, dort der Asylsuchende. Allerdings waren die wenigsten Mosambikanerinnen in Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre in einem Asylverfahren. Sie waren ehemalige ‚ausländische Werktätige‘, Vertragsarbeiterinnen. Sie waren entweder (prekär) weiter beschäftigt oder genauso arbeitssuchend wie ihre ehemaligen ostdeutschen Kollegen.

Eine Bezugnahme auf die manchmal unbekannte, manchmal verkannte Situation und Geschichte der Vertragsarbeiterinnen in und nach der DDR bot sich direkt am Sonntagmorgen, als die lokale Presse über die Nominierung von Hai Bui für die Kommunalwahlliste der Dresdner FDP berichtete. Der Sohn vietnamesischer Vertragsarbeiter steht exemplarisch für den langen Weg politischer Repräsentation bzw. dafür, dass das Erreichen (kommunal-)politischer Mandate durch Vertreter (post-)migrantischer communities zunehmend selbstverständlich wird.

Am nächsten Tag, Montagvormittag, traf ich mich in Berlin zu einem Gespräch mit Anna Flemming, die eine der ersten Personen in Dresden war, die sich seit 1989 für die Belange von (nicht nur) Vertragsarbeiterinnen engagiert hatten. Der Austausch war eine wichtige Ergänzung zu dem oben erwähnten Archivprojekt, das sich Dokumenten aus der Anfangszeit von Migranten(selbst- )organisationen widmete. Diese frühen Initiativen waren Aufbrüche im Umbruchsgeschehen; teils ambitioniert, teils Notwendigkeiten und existentiellen Dringlichkeiten Abhilfe schaffend.

Von solchen meist ambivalenten Situationen um 1989/90 (und freilich auch in der Gegenwart) war auch in vielen der im Projekt ‚MigOst‘ erhobenen Interviews die Rede gewesen. Die hier angeregten Versuche, ostdeutsche Migrationsgesellschaft in Erzählcafés und Lebensgeschichten selbst zu erzählen, kamen am Montagabend zu einem zumindest formellen Ende. Die Abschlussveranstaltung bot neben einer Präsentation der Projektergebnisse im Rahmen des Montagscafés im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden auch ein so genanntes Erzähldinner. So saß ich an diesem Tag zweifach gewissermaßen migrationsgeschichtlich zu Tisch – und zwischendurch in Zugabteilen.

Abschlussveranstaltung ‚MigOst‘ – Erzähldinner mit Musikbegleitung, Dresden, 2024
Nick Wetschel: Abschlussveranstaltung ‚MigOst‘ – Erzähldinner
mit Musikbegleitung, Dresden, 2024

Am Dienstag nun sollte das Fundstück entstehen. Tat es aber nicht. Und für diese und allerlei weitere Verzögerungen gibt es Gründe. Zu den besseren gehört die forschende Auseinandersetzung mit ostdeutscher Migrationsgesellschaft.
Im Rest-Februar war das unter anderem die Vorbereitung und Durchführung eines weiteren Interviews mit Menschen aus der Gründungsgeneration einer weiteren Partnerorganisation im schon erwähnten Projekt zur migrantischen Selbstorganisation nach 1989/90. Vorbereitet werden wollte auch ein Werkstattgespräch im Rahmen dieses Vorhabens, das erste Einsichten zur Diskussion stellte – und die beteiligten Partner sowie andere Expertinnen um ihre Einschätzung bat.

Zu den schlechteren, aber unvermeidlichen Gründen gehört der (Forschungs-)Alltag, in dem auch andere Texte geschrieben und verworfen werden wollen oder die Schreibmusen unpässlich sind. In diesen Alltagen tauchen aber auch immer wieder weitere Anknüpfungspunkte auf: Manche machen zunächst ratlos und legen zynische Kommentare über Zweitsprachenkompetenzen auf die Zunge. Andere sind mit einem begeisterten Kinderlächeln garnierte Süßkramfreude anlässlich des muslimischen Fastenbrechens. Ob an einen Pfahl geklebte Ablehnung oder von einem Kind an seine Freunde verteilte Freude: Beides lässt sich – und zwar gerade in seiner Beiläufigkeit – auf die Normalität von Migrationsgesellschaft hin befragen.

Und während das April-Fundstück seinen Weg auf die Institutswebsite und damit hoffentlich nicht gelangweilte, bestenfalls erheiterte und nachdenkliche Leserinnen und Leser findet, sitzt der Autor in einer Veranstaltung, die den verflochtenen Geschichten von Arbeitsmigration in beiden deutschen Staaten und im Transformationsprozess nachgeht.

Fundstücke gibt es überall. Sie entstehen nebenbei – immer dann, wenn sich die Zeit dazu findet.

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