Fundstück aus dem ISGV – im April 2023

Adolf Spamer 70 – 140 – 2023. Begegnungen, Legenden und Jahrestage

von Nadine Kulbe

Exlibris von Adolf Spamer mit der Stadtmauer von
Mainz und dem Holzturm, 1933 (SLUB/Deutsche Fotothek)

Am 10. April 1883 wurde der Volkskundler und Germanist Adolf Spamer in Mainz geboren, er würde in diesem Jahr also seinen 140. Geburtstag feiern. Allerdings leben Menschen nicht so lang, was man wiederum von Legenden und Geschichten über sie nicht sagen kann. Es gibt sicherlich nicht allzu viele Kulturwissenschaftler:innen, die es in die „schöne“ Literatur geschafft haben. In seinem berühmt gewordenen Romanzyklus „Das Büro“ (ndl. „Het Bureau“, sieben Bände, im Original erschienen zwischen 1996 und 2000) verarbeitete der niederländische Volkskundler und Schriftsteller Johannes Jacobus Voskuil (1926–2008) seine dreißigjährige Tätigkeit am Amsterdamer „Instituut voor Dialectologie, Volks- en Naamkunde“ (heute: Meertens Institut) und beschreibt darin viele seiner Kolleg:innen. Dass auch Adolf Spamer zu einer Romanfigur geworden ist, dürfte allerdings kaum bekannt sein. Das erste Mal stieß ich darauf in einem Briefwechsel zwischen Spamers Schülerin Johanna Nickel (1916–1984) und seinem kollegialen Freund Hugo Hepding (1878–1959).

Cover des Romans „Ich sag’s meinem großen Bruder“
Cover von Rudolf Franks (Pseud. Wolfgang Ense) Roman
„Ich sag’s meinem großen Bruder“, Berlin 1934

Nach Spamers Tod am 20. Juni 1953, der sich in diesem Jahr zum 70. mal jährt, begann Nickel, seine Arbeit an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin weiterzuführen und stand daher in Kontakt mit Hepding als langjährigem Weggefährten. Am 20. August 1958 schrieb sie an Hepding, dass sie den „Enserschen Roman […] mit grosser Freude gelesen [habe]. Viele liebenswerte Züge von Spamer sind gut dargestellt und manche Anekdote wörtlich in der Spamerschen Erzählfassung wiedergegeben.“ Was hat es damit auf sich, fragte ich mich beim Lesen dieser Zeilen? Es dauerte eine Weile, bis ich herausfand, dass es sich bei Wolfgang Ense um das Pseudonym des jüdischen Schriftstellers und Theaterregisseurs Rudolf Frank (1886–1979) und bei dem erwähnten Roman um dessen 1934 erschienenes Werk „Ich sag’s meinem großen Bruder“ handelt. Es geht darin um den Volkskundler Matthias (Matthes) Hüsgen, dessen jüngere Schwester Ursula (Ursel), deren Mann Walter Lukschy, das gemeinsame Söhnchen Berthold (Butzi) und all die Irrungen und Wirrungen in Liebes- und Lebensdingen im Berlin der frühen 1930er Jahre – ein ausgesprochen lustiges und charmantes Buch, das heute leider in kaum noch einer Bibliothek zu finden ist.

Adolf Spamer gehört zu den wichtigsten Protagonisten der frühen akademischen Volkskunde und war für die Etablierung des Fachs von großer Bedeutung. Er stammt aus einer hessischen Medizinerfamilie. Sein Vater Karl Spamer (1842–1892), Arzt und Psychiater, trat als Erfinder elektronischer medizinischer Geräte hervor. Die Mutter, Linda geb. Pistor (1842–1897), starb ebenso wie ihr Ehemann früh und so wuchs der Sohn bei Verwandten in Darmstadt auf. Dort besuchte er das Gymnasium, studierte in Freiburg/Br., München, Berlin und Gießen Deutsche Philologie mit dem Schwerpunkt Altgermanistik, Kunstgeschichte und Staatswissenschaften. Nach beruflichen Stationen in München und Frankfurt/M. übernahm er 1926 den neu eingerichteten Lehrstuhl für Deutsche Philologie und Volkskunde an der Technischen Hochschule Dresden, 1936 dann den Lehrstuhl für Deutsche Volkskunde an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin.

Grabstein für Adolf Spamer auf dem Waldfriedhof Dresden
Grabstein für Adolf Spamer auf dem Waldfriedhof
Dresden, 1997 (ISGV/Bildarchiv, BSNR 047444)

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in Dresden unter Spamers Leitung das „Institut für Volkskunde und Volksbrauch“ aufgebaut. 1947 wurde es als „Institut für Volkskunde“ an die Technische Hochschule Dresden angegliedert. Im gleichen Jahr erhielt der Wissenschaftler die Dresdner Professur für germanische Philologie und Volkskunde, die er bis 1950 mit Lehrveranstaltungen ausfüllte. 1953 starb er an den Folgen eines Schlaganfalls und wurde auf dem Dresdner Waldfriedhof beigesetzt.

Begegnet ist Adolf Spamer im Laufe seiner siebzig Lebensjahre sehr vielen Menschen: Familienmitgliedern, Freund:innen, Studierenden, Kolleg:innen, Gewährspersonen… Nur die wenigsten haben darüber „Zeugnis abgelegt“ – so wie der Dresdner Romanist Victor Klemperer (1881–1960) in seinen Tagebüchern. Die beiden Wissenschaftler kannten sich, waren sie doch Kollegen an der Philosophischen Fakultät der Dresdner Technischen Hochschule.

Victor Klemperer während eines Künstlerkongresses 1946
Victor Klemperer während eines Künstlerkongresses,
1946, Foto: Erich Höhne & Erich Pohl
(SLUB/Deutsche Fotothek)

Von 1926 an berichtete Klemperer immer wieder von Begegnungen mit „Spamer, dem neuen Collegen […]. Spamer ist mir lieb, ein ruhiger, schon ergrauender Mann von Anfang 40, sehr germanisch mit Vollbart, aber sehr gutmütig, humorvoll, fein“ (31. Juni 1926). Man traf sich an der Hochschule, aber auch bei Veranstaltungen und Abendessen im kollegialen Kreis: „Ein ziemlich offizielles Essen bei Blumenfelds. Der gutmütige Spamer, der merkwürdige Professur Stepun u. seine gute Frau Natascha, der seltsame Theologe Tillich, ganz Kopf, Erotik, Kälte, und seine verschwiemelt u. verboten aussehende Gattin Herta, Düsternis, occultistisch-erotisch orientiert, die zweite Frau nach Scheidung von der ersten. Ich stand mit Tillich am Kamin. Es wurde Kaffee gereicht. […] Nachher Verteilung auf drei Zimmer. Vorn musicierte Frau Schaps, hinten plauderte ich mit Spamer über Frankfurt, Hatzfeld, Friedwagners Nachfolger.“ (23. Dezember 1927) Klemperers positive Meinung über Spamer änderte sich mit dem Beginn der NS-Diktatur. Klemperer, der jüdische Wissenschaftler, sah die Entwicklung deutlich skeptischer als Spamer: „Am 25.4. war (nach jahrelanger Pause) Spamer unser Gast. Der Mann der Volkskunde und primitiven Denkarten, der gemütliche Frankfurter. Er kam vom Verleger aus Berlin. Er sagte: In Berlin rechnen alle mit dem baldigen Zusammenbruch. Ich nicht. Die Masse läßt sich alles reinreden. […] Vielleicht urteilt Spamer doch zu sehr von seinem Beruf aus. […] Spamer ist wie dieser Kinderarzt, da er ja ständig mit der kindlichen Seite der Volkspsyche zu tun hat. Sie ist gewiß überall vorhanden, auch im Gebildeten.“ (13. Mai 1934) Was Klemperer dem (ab 1936 ehemaligen) Kollegen vorwarf, war seine naive Haltung gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern, die ihn, den Volkskundler, instrumentalisieren wollten: „Spamer kam einmal im November zu Besuch und war mir zu harmlos. Er verschließt die Augen gegen das Fürchterliche und ist Nutznießer. Großer Mann als Volkskundler, Leiter irgendeiner Reichsstelle, Herausgeber, Kongreßvertreter in Edinburgh, im Vorschlag für das Berliner Katheder. Er trägt sein graues Haar in schön frisierten langen Hängelocken bis auf die Schultern. Jesus aus Oberammergau. […] Ich traue dem ehrlichen und gutmütigen Spamer nicht mehr ganz, er spielt eine Rolle der völligen Kindlichkeit, und sie bekommt ihm und hält ihm alles offen.“ (1. Januar 1936) Offene Bekenntnisse Spamers zum Nationalsozialismus gibt es nicht. Die Ideologisierung des deutschen Nationalismus und die Hegemonie einer deutschen ‚Rasse‘ waren seinen Arbeiten völlig fremd. Wohl aber nahm er den Nationalsozialismus als Chance seines Faches wahr. Die Instrumentalisierung der Volkskunde durch die Nationalsozialisten und die ihr zugesprochene gesellschaftliche Relevanz versuchte Spamer zu nutzen. Aufgrund seiner Vorliebe für ‚unpolitische‘ Themen wie medikale Praktiken, Erzähltraditionen und Religiosität sah er sich jedoch bald auch Anfeindungen durch ideologische, kulturpolitische NS-Einrichtungen wie das „Amt Rosenberg“, die „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“ und das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ausgesetzt. Diese gipfelten in Denunziationen und einer Untersuchung durch die Geheime Staatspolizei. Als Spamer 1938 als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen wurde, verweigerte das Ministerium die Bestätigung dieser Berufung. Wohl auch aufgrund des immer stärker werdenden Drucks auf seine Person erlitt Spamer 1943 einen körperlichen Zusammenbruch. Dies alles erfuhr Klemperer erst später. Seine letzten Tagebucheinträge über Spamer schildern die große Herzlichkeit, die ihm Spamer – im Gegensatz zu anderen ehemaligen Kollegen – entgegenbrachte. Am 1. Juli 1953 notierte er betroffen: „Tod Adolf Spamers angezeigt. Ging mir nahe. Spamer seit Jahren gelähmt, moribund. Ein Jahr jünger als ich. Ich verübelte ihm, daß er unter Hitler nach Berlin ging. Ich erfuhr jetzt, daß er bereits 38 in die Akademie gewählt u. damals von der Hitlerregierung als mißliebig nicht bestätigt wurde. (Er hat mir selbst erzählt, daß Goebbels ihn, den demokratischen Volkskundler gehaßt habe, daß er in Gefahr gewesen sei; ich glaubte ihm das nur halb. Er wurde in Berlin ausgebombt u. wohnte 45 in Dresden. Wir sahen uns ein paarmal. Dann hörte ich von seiner Erkrankung.)“

Herzlichkeit und Offenheit gepaart mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und sammelndem Eifer sind Charaktereigenschaften, die Weggefährt:innen immer wieder betont haben, insbesondere in den zahlreichen mit persönlichen Erinnerungen gespickten Nachrufen. Einen wichtigen Stellenwert darin haben die Anekdoten, kleinen Geschichten und geteilten Erinnerungen, die man sich über Spamer erzählte und die er selbst wohl auch gern befeuert hat. Dazu gehört, dass er 1948 in einem Seminar die Studierenden Gedichte von Hermann Hesse zur Übung ins Gotische übertragen ließ und diese Übersetzungen hernach an den Schriftsteller in der Schweiz sandte: „So nehmen Sie denn, bitte, diese schlichte (und begreiflicherweise unvollkommene, doch gut gemeinte) Gabe als das, was sie sein soll und ist: als einen Gruß aus der Ferne, ein Zeichen der Verehrung unserer deutschen Jugend zu Mann und Werk und als ein Bekenntnis des Wissens, daß die gleichen Sterne, die über dem Luganer See funkeln, auch über der Elbe walten.“ Dazu gehört auch die Geschichte, dass dem zerstreuten Spamer auf einer Bank sitzend und lesend sein Schlüssel aus der Tasche gefallen sei, er diesen aufgehoben und nicht als seinen erkennend bei der Polizei abgeben habe – ein Fehler, der ihm erst vor seiner Haustür auffiel. Ebenso die Berichte, wie Spamer immer wieder auf Jahrmärkten umhergegangen, Programme- und Reklamezettel gekauft, sich mit den Schausteller:innen unterhalten hätte, bis einer ihn fragte: „Der Herr ist wohl auch eine Abnormität?“

Diese und andere Episoden hat Rudolf Frank in seinem Roman verarbeitet und dem Volkskundler damit ein, wenn auch weitgehend unbekanntes, Denkmal mit literarischer Freiheit gesetzt: „Indessen hatte der Doktor [Hüsgen] über den bemerkenswerten Erscheinungen der Folklore, die ihm beim Umsteigen auf Schritt und Tritt und selbst ohne Schritt beim Warten auf dem Bahnsteig und während der Fahrt im Abteil entgegenkamen, das ursprüngliche Ziel seiner Reise völlig vergessen. In seinem Notizbuch vermerkte er eine neue Bildersprache, Bildpädagogik im Dienst der Verkehrssicherheit, fibelartig gemalte und beschriftete Plakate und Bilderbogen für Fremdenverkehr, Ernährung und Rettung Schiffbrüchiger. Denn Hüsgen gehörte zu jener Schule von Volkskundlern, die nicht allein die Vergangenheit, sondern ebenso gründlich und erfolgreich die Gegenwart nach Zeugnissen künstlerisch formenden, anonymen Volksgeistes durchforschen. Er stieg auf mehreren Stationen aus, machte Abstecher und geriet schließlich auf einen Rummelplatz in Mahlsdorf, wo er wertvolle Ergänzungen zu früheren Aufzeichnungen über Abnormitäten, ihre Sitten und Gebräuche zu finden hoffte. Langbeinig stieg er von Bude zu Bude, ließ sich überall Hand- und Wurfzettel geben und führte mit den Insassen der Schaubuden ergiebige Gespräche. Schließlich kam auch der Inhaber einer Abnormitätenschau und fragte ihn: ‚Sind der Herr auch eine Abnormität?‘“ Rudolf Frank selbst schrieb über das Werk in seinen Lebenserinnerungen: „In meinem Roman ‚Ich sag’s meinem großen Bruder‘ habe ich meinen Freund Spamer […] so lebenswahr, wie es mir damals möglich war, abgezeichnet. Er war hochgewachsen, hager, trug einen rötlichen blonden Spitzbart und legte weder auf gutes Essen noch auf seine Kleidung besonderen Wert. Seine Stimme war weich. Er liebte die Menschen, besonders die einfachen; er liebte die Dörfer und die stille Natur; er liebte die Tiere, besonders die Katzen.“ Ob Spamer von dem Buch gewusst hat? Zu vermuten ist es, auch wenn sich in den zahlreichen Nachlassfragmenten kein Hinweis auf einen Austausch zwischen Frank und Spamer erhalten hat.

Wie viel von solchen Geschichten Legende ist und wie viel Wahrheit, wird ein Geheimnis bleiben. Was die literarischen und nicht-literarischen Erinnerungen zeichnen, ist das Bild eines Mannes, dem Hochachtung und Respekt entgegengebracht wurden, der humorvoll, offen und wertschätzend war. Ein Leben beschreibt sich in biografischen Fakten zwischen Geburt und Tod, die aber nichts über Anerkennung, Achtung, Sympathien oder Antipathien aussagen. Dies schaffen erst persönliche Erinnerungen, die sich im Fall Adolf Spamers in vielfältiger Form erhalten haben. Als abschließendes Beispiel dafür mögen die Erinnerungen der Volkskundlerin Gisela Burde-Schneidewind (1920–?) an ihre erste Begegnung mit Adolf Spamer zu Beginn ihres Studiums in Dresden 1947 dienen: „Pünktlich betrat den Raum ein — nach Meinung von uns Jungen — ‚älterer‘ Herr in einem kriegsverschlissenen Wintermantel und mit einem großen schwarzen, breitrandigen Filzschlapphut, wie man ihn von Bildern mit Wilhelm Busch kannte. Mit der einen Hand stützte er sich auf einen Krückstock, und an derselben Hand schaukelte eine die Spuren langjährigen Gebrauchs verratende Aktentasche. Eigentlich hatten wir uns unter einem Professor eine etwas imposantere Erscheinung vorgestellt. Der ursprünglich so mitleidig betrachtete Herr vermittelte uns jedoch in gefälliger Art sehr bald all das, was der angehende Germanist als Rüstzeug benötigt. […] Nun schlug unser anfängliches Überlegenheitsgefühl um in Staunen, zog Bewunderung nach sich und gipfelte schließlich in Verehrung und bis heute währende Dankbarkeit.“

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