Adventskalender aus dem ISGV – 2024
Bisweilen ist es gut, den Standort zu wechseln. Ein Blick oder Ausblick von einem erhöhten Punkt aus kann die eigene Sichtweise verändern. Das wusste schon der Dichter Friedrich Hölderlin (1770–1843), der die letzten Jahre seines Lebens in einer Turmstube oberhalb des Neckars in Tübingen verbringen musste. Zwei Jahre vor seinem Tod entstand ebendort das Gedicht „Aussicht“:
Der off’ne Tag ist Menschen hell mit Bildern,
Wenn sich das Grün aus ebner Ferne zeiget,
Noch eh’ des Abends Licht zur Dämmerung sich neiget,
Und Schimmer sanft den Glanz des Tages mildern.
Offt scheint die Innerheit der Welt umwölkt, verschlossen,
Des Menschen Sinn von Zweifeln voll, verdrossen,
Die prächtige Natur erheitert seine Tage,
Und ferne steht des Zweifels dunkle Frage.
Als historisches, kulturelles und soziales Phänomen sind die „Aussicht“ und die Erschließung von Orten, die eine solche ermöglichen, mit der Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft verbunden. In Architektur und Landschaftsgestaltung waren sie an adlige Lebenswelten angelehnt. Schon in der Ratgeberliteratur zur Anlage von Landschaftsgärten um 1800 avancierte die „Aussicht“ zu einem zentralen Thema. Damit ist der Beginn einer inzwischen über 200 Jahre dauernden Entwicklung markiert, die sich auf vielfältige Weise in die Landschaft und unsere Wahrnehmung, in Kultur und Kunst eingeschrieben hat.
Der Ausblick von der um 1770 auf dem Borsberg bei Schönfeld-Weißig errichteten sogenannten Eremitage (französisch; deutsch „Einsiedelei“) wies den Reisenden den Weg in das an den Ufern der Elbe liegende Sandsteingebirge. Diese Bergwelt wurde immer häufiger auch zum Ausflugsziel für die Dresdner Stadtbevölkerung. Angesichts der wirtschaftlichen Relevanz wurden erste infrastrukturelle Maßnahmen ergriffen, um den Zugang und das Erleben solcher Landschaften zu ermöglichen. Im Zuge der in den 1860er-Jahren begonnenen Landesvermessung ließen die beauftragten Kommissare auf vielen über das gesamte Land verteilten Höhen Vermessungssäulen errichten. Vereinzelt entstanden einfache Gerüste, die manchmal als Aussichtstürme genutzt wurden.
Die seit dem Ende der 1870er-Jahre gegründeten Gebirgsvereine griffen das in der Bevölkerung gewachsene Interesse am Entdecken der Landschaft auf: Hunderte von Aussichtsorten wurden durch Ruhebänke, Sicherheitsgeländer, Pavillons oder – wo es Sichthindernisse erforderten – Türme erschlossen. Die Mitglieder der sächsischen Gebirgsvereine fühlten sich dem Herrscherhaus verbunden. Entsprechend erhielten die Aussichtsbauwerke Namen von Angehörigen des Hauses Wettin: der Luisenturm auf dem Geising bei Altenberg, der Prinz-Georg-Turm auf dem Unger bei Neustadt oder der Prinzess-Marien-Turm auf der Dreibrüderhöhe bei Marienberg. Zudem entstanden in der Nähe immer häufiger Ausschänke und Einkehrmöglichkeiten zur Versorgung der Besucher:innen. Mit der Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Postkarte konnten Bauwerke und Aussichtspunkte nun auch bildlich in Szene gesetzt und verbreitet werden.
Nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 entstanden bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges etwa 200 Bauten, bei denen sich die Namensgebung an der zunehmend national gesinnten politischen Ausrichtung orientierten. Die bekanntesten Varianten dieser Aussichtsarchitektur sind die Bismarcktürme.
Einen weiteren kurzen Aufschwung erlebte das Phänomen „Aussicht“ bis in die 1930er-Jahre: Vergnügungsparks (die sogenannten Lunaparks) und Areale großer gewerblicher und kultureller Ausstellungen wurden mit temporär errichteten Türmen ausgestattet, um die Gelände überblicken zu können.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veränderten sich Landschaften und Blickachsen auch in Sachsen: Viele traditionsreiche Aussichtspunkte verschwanden, denn durch fehlende Pflege nahm die Überwucherung der Orte zu, Anlagen wurden marode. Zudem war der weite Blick vor allem in den grenznahen Mittelgebirgen politisch nicht länger gewollt: Der Erhalt von Aussichtsorten scheiterte entweder am mangelnden Interesse der neuen staatlichen Eigentümer oder sie wurden infolge politischer Entwicklungen für die Öffentlichkeit gesperrt.
Während der DDR-Zeit entstanden daher nur wenige Neubauten, die dem Landschaftsüberblick gewidmet waren. Die ‚schöne Aussicht‘ galt eher als positiver Nebeneffekt, denn als primäre Nutzungsmöglichkeit: Der Turm an der Großgaststätte auf dem Fichtelberg, die Plattform über dem Café auf dem Fernsehturm in Dresden sowie die Aussichtsebene auf dem Universitätshochhaus im Leipziger Zentrum sind Beispiele hierfür.
Erst nach 1990, infolge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, erlangte die Landschaftsaussicht im urbanen und im ländlichen Bereich wieder überraschende Popularität. Aussichtsorte wurden unverzichtbarer Bestandteil einer neu entstehenden touristischen Infrastruktur. Bis in die Gegenwart entstehen Aussichtsorte in großer Vielgestaltigkeit und kaum zu erwartender Quantität. So erlebte eine erhebliche Zahl bereits abgetragener Aussichtsbauwerke ihre Wiederauferstehung. Es kam außerdem zu umfangreichen Rekonstruktionen ruinöser und gesperrter Bauten. Neben der Wiederherstellung der Verkehrssicherheit stand immer auch das Bemühen, Aussichtserlebnisse in entstehende touristische Strukturen zu integrieren. Die Erhaltung und die Neuschaffung von Ausblicken wurden in vielen Fällen auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene finanziell gefördert. Außer dem Erleben gewachsener geotopografischer Landschaften galt das Interesse den infolge der wirtschaftlichen Transformation entstehenden „Neu“-Landschaften.
In den vergangenen Jahren waren die hier erwähnten und viele weitere sächsische Aussichtsorte Thema des ISGV-Forschungsprojekts „Neue Sichtweisen. Zum Aufleben einer Aussichtsturmbegeisterung“. Im Ergebnis entstand die Publikation „Aussicht! Der Landschaftsüberblick und seine Orte in Sachsen“ (Leipzig 2023) unseres ehemaligen Kollegen Andreas Martin. In ihr zeichnet er die Entwicklung der Aussichtsbegeisterung und ihrer Bauwerke nach. Der Katalog verzeichnet mehr als 450 Orte in Sachsen, die sich vom 17. bis zum 21. Jahrhundert touristisch mit der Aussicht verbinden. Über 6.000 Bilder, die eine wichtige Grundlage dieser Arbeit darstellen, sind außerdem im Digitalen Bildarchiv des ISGV verfügbar.
Unser diesjähriger Adventskalender, der auf Grundlage des Katalogs von Andreas Martin entstanden ist, gibt nur einen kleinen Einblick in die vielgestaltige Aussichtslandschaft Sachsens. Vielleicht dient er als kleine Anregung für winterliche und weihnachtliche Spaziergänge und Wanderungen zu Aussichtstürmen und -plätzen. Denn garantiert gibt es auch in Ihrer Nähe solche Orte. Zur Nachbereitung des Besuchs sei ein anschließender Blick in den Katalog wärmstens empfohlen.
Andreas Martin und Nadine Kulbe