Sachsen: Weltoffen

Entgrenzter Adel

Martina Schattkowsky

Jacob Heinrich Graf von Flemming (1667–1728), der wohl prominenteste Minister des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. (August der Starke), klagte noch 1727 darüber, dass er – fremd ins Land gekommen –, hier keine Freunde oder Verwandten vorgefunden hätte und von dem in Sachsen gegen Ausländer herrschenden Übelwollen nicht verschont geblieben sei (zitiert nach P. Haake, S. 159). Gleichwohl hat dieser aus Pommern stammende Adlige für fast zwei Jahrzehnte Politik und höfisches Leben in Dresden ganz wesentlich mit geprägt, gestützt auf ein geschickt eingefädeltes personales Netzwerk in den Schlüsselstellen von Diplomatie, Politik und Verwaltung.

Fest steht: In die Dienste fremder Herrscher zu treten und sich auf Kavalierstouren und Bildungsreisen an die wichtigsten europäischen Universitäten zu begeben, war für viele Adlige in der Frühen Neuzeit schon bald zur Normalität geworden. Territorienübergreifende Mobilität dieses Standes gab es allenthalben: in der Politik und Kultur ebenso wie beim Erwerb von Besitz, bei Heiratsverbindungen oder bei Kreditgeschäften mit der Landesherrschaft. Von daher stellten Landesgrenzen keine wirklichen Kommunikationsbarrieren zwischen dem Adel verschiedener Fürstentümer dar. Ähnlich gelagerte Herausforderungen und Anpassungszwänge, aber auch die übereinstimmenden Interessen ihres Standes ließen grenzübergreifende Kontakte zwischen Adelsgesellschaften zur Selbstverständlichkeit werden. Die auswärtigen Dienste sollten sich nicht nur für den Adel auszahlen, auch für die Fürsten erwies sich die Anwesenheit ‚ausländischer‘ Adliger geradezu als Gradmesser für die Attraktivität des eigenen Hofes. Davon abgesehen konnte für sie ein dichtes landesübergreifendes Kommunikationsnetz ihrer Eliten in vieler Hinsicht von Vorteil sein.

Auch Sachsen profitierte so von den vielfältigen Beziehungsgeflechten und der Migration von Adligen aus nah und fern.

Besonders greifbar wird dies an der sächsisch-böhmischen Grenze, die über Jahrhunderte hinweg tatsächlich weniger eine Trennlinie als vielmehr einen lebhaften Kontaktraum zwischen Sachsen und Böhmen darstellte. Träger dieser Kommunikation waren nicht nur Künstler, Gelehrte, Bergleute und andere Arbeitskräfte, sondern auch der böhmische und sächsische Adel. Mobil, vernetzt und vermögend, waren Adlige wichtige Mediatoren über die Territorien hinweg.

Bestes Beispiel ist die seit 1406 im Osterzgebirge ansässige Familie von Bünau mit ihren mächtigen Herrschaftskomplexen beiderseits der Grenze. Ausgehend von ihrem neuen Stammsitz in Weesenstein stieß sie in der Reformationszeit nach Böhmen vor. Unter Rudolf II. von Bünau (1465–1540) erwarb sie 1517 die bis zur Landesgrenze reichende Herrschaft Lauenstein, 1534 kam die benachbarte Herrschaft Tetschen (tschech. Děčín) hinzu. Die Ansiedlung in Böhmen tat den Kontakten nach Sachsen jedoch keinen Abbruch. Die Familienbande blieb über die Grenze hinweg weiterhin eng, ebenso wie die Beziehungen zum albertinischen Fürstenhaus. Noch Heinrich von Bünau auf Tetschen (1555–1614), ein Enkel Rudolfs II., war Kammermeister des sächsischen Kurfürsten August. Nicht von ungefähr zeigen die 1539 bzw. 1544 entstandenen Fresken in den Rittersälen der Bünau-Schlösser Tetschen und Weesenstein mit Herzog Georg (in beiden Schlössern) bzw. Herzog Heinrich und Kurfürst Moritz (Schloss Weesenstein) sächsische Herrscherpersönlichkeiten.

Die Familie von Bünau war kein Einzelfall. Seit dem Spätmittelalter hat so manches sächsische Adelsgeschlecht sein Glück in Nordböhmen gesucht, sei es, um dem bedrängenden Hegemonialstreben der Wettiner zu entkommen, sei es wegen der Aussicht auf neuen Grundbesitz und weitreichender Adelsbefugnisse, einschließlich konfessioneller Freiräume besonders zur Reformationszeit. Es gab also gute Gründe, sich in Böhmen nach neuen Gütern umzutun.

„Adelstransfer“ funktionierte auch in umgekehrter Richtung – und dies schon weit vor dem Schlüsseljahr 1627, als es im Rahmen der habsburgischen Rekatholisierung nach der Schlacht am Weißen Berg zur Ausweisung des protestantischen Adels aus Böhmen kam. Damals verließen schätzungsweise 200 Adelsfamilien – darunter auch die Bünaus – ihre Heimat und bauten sich zumeist in Sachsen eine neue Existenz auf. Schon lange vor dieser Zeit waren im Hochmittelalter Teile der erzgebirgischen Kammregion mit den sächsischen Herrschaften Purschenstein, Rechenberg, Sayda und Pfaffroda von Böhmen aus besiedelt worden. Dementsprechend hatten Familien wie die von Rechenberg und von Sayda, wahrscheinlich auch die von Haugwitz dort ihren Ursprung. Nicht zu vergessen die Familie Schlick mit ihren Besitzungen in Westböhmen, im Egerland und im Westerzgebirge, die es schon seit den 1430er-Jahren nach Sachsen zog. Zunächst lockte ein Schutz- und Dienstverhältnis mit den Wettinern, das sie für eigene territoriale Interessen gegen andere böhmische Standesvertreter nutzen konnten. Später dann engagierten sich die Grafen Schlick – wie auch andere böhmische Adlige – im erzgebirgischen Silberbergbau und nutzten dabei den grenzüberschreitenden Austausch von Waren und Arbeitskräften. Nicht zuletzt aufgrund ihrer guten Beziehungen nach Sachsen nahmen die Schlicks damals eine wichtige Mittlerrolle zwischen Böhmen und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ein.

Hinweise für die Nähe zu Sachsen finden sich in vielen böhmischen Adelsbiografien. So etwa bei Graf Stephan Schlick, der 1500 als Student an der Universität Leipzig nachweisbar ist und sich 1504 am Hof Kurfürst Friedrichs des Weisen aufhielt, oder Adam von Wartenberg auf Rohosetz und Kleinskal, der 1565 seinen Sohn Carl an den Hof Kurfürst Augusts von Sachsen sandte, um ihn dort zusammen mit dem kurz darauf verstorbenen Kurprinzen Alexander erziehen zu lassen.

Dennoch ist nicht zu übersehen, dass adlige Migration im 16. Jahrhundert häufiger von Sachsen nach Böhmen verlief als in die umgekehrte Richtung. Offensichtlich war für böhmische Adlige der Weg ins benachbarte Kurfürstentum weniger attraktiv, zumindest wenn es um Besitzerwerb und feste Ansiedlung ging. Da verhieß ihnen das Königreich Böhmen weitaus bessere Aufstiegschancen. Hier belohnte der ferne Landesherr Fürstendienst und Loyalität seines Adels mit einer Nichteinmischung in deren lokale Herrschaften.

Ganz anders sah es für den benachbarten brandenburgischen Adel aus: Für ihn entfaltete der sächsische Fürstenhof als Mittelpunkt eines der führenden Territorien im Alten Reich eine große Anziehungskraft – eine größere jedenfalls als die Hohenzollernresidenz für den sächsischen Adel. Wer es sich wie etwa die wohlhabenden Familien von Arnim oder von Rohr leisten konnte, schickte den Nachwuchs nach Sachsen: entweder, um dort als Pagen erste Hoferfahrungen zu sammeln und informelle Kontakte zu knüpfen, Karriere im Militärdienst zu machen, als Emissäre für den eigenen Landesherrn tätig zu werden oder auswärts im fürstlichen Auftrag schwierige diplomatische Verhandlungen zu führen. Sächsischer Fürstendienst zahlte sich im Fall der brandenburgischen Ritterschaft offenbar aus. Damit ließ sich die eigene Reputation steigern oder man durfte auf finanzielle Zuwendungen und Geschenke hoffen. Besonders begehrt waren Dresdner Einladungen zu Reiterspielen und Jagdvergnügen, die sich Familien wie die von der Schulenburg oder von Holtzendorff nicht entgehen ließen.

Adlige Netzwerke griffen gerade in politischen Krisenzeiten, so beispielsweise im Umfeld des Schmalkaldischen Krieges von 1546/47, als Eustachius von Schlieben und Adam von Trott mehrfach im Auftrag des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. in diplomatischer Mission unterwegs waren, um zwischen den beiden damals verfeindeten wettinischen Fürsten zu vermitteln und einen drohenden bewaffneten Konflikt doch noch zu verhindern. Sachsen wiederum war bestrebt, über Brandenburgs Adel am fortgeschrittenen militärischen Knowhow des Nachbarn zu partizipieren. Nicht von ungefähr wurden damals die brandenburgischen Obristen von Bornstedt und von Venediger mit der Aufstellung und Umstrukturierung sächsischer Regimenter beauftragt.

Die Sogwirkung der kursächsischen Residenz, die mit dem Erwerb der polnischen Krone im Jahr 1697 zweifellos eine beträchtliche Aufwertung erfuhr, ließ bei der brandenburgischen Ritterschaft auch im sog. absolutistischen Zeitalter nicht nach. Selbst nach dem „Aufstieg“ der eigenen Monarchie seit der Mitte des 17. Jahrhunderts änderte sich dies keineswegs schlagartig. Im Gegenteil: Besonders seit Ende des 17. Jahrhunderts bot der Dresdner Hof noch mehr Chancen für landfremde Adlige – verfolgten doch damals die sächsischen Kurfürst-Könige eine eigenwillige Personalpolitik. Um den Einfluss des mächtigen einheimischen Adels zurückzudrängen, brachten sie eine größere Zahl an „Ausländern“ in leitende Hofämter oder in die sächsische Armee. Davon profitierten nicht nur der eingangs genannte Graf von Flemming aus Pommern, sondern auch viele brandenburgische Adlige, die entweder in einem der vielen Hofämter in Dresden selbst tätig waren oder – wie die von Klitzings, von Knochs oder von Burgsdorffs – zwischen 1657 und 1746 im Verwaltungsdienst bei den wettinischen Sekundogeniturfürsten zu Weißenfels, Halle bzw. Merseburg standen. Fürstendienst an diesen Höfen galt als wichtiges Karrieresprungbrett – und dies durchaus nicht nur für die brandenburgische Ritterschaft. Die Hof- und Staatskalender der Jahre 1727 bis 1757 liefern die Belege: Neben polnischen Adelsvertretern und Adligen aus verschiedenen Teilen des Reichs fallen auch Franzosen und Italiener ins Auge, die für kürzere oder längere Zeit am Dresdner Hof – allen voran im Offizierskorps – in Erscheinung traten. Besonders unter August dem Starken nahm der Anteil landfremder Adliger stark zu. Dies zeigt sich wohl nirgends so deutlich wie am Beispiel der einflussreichen Kabinettsminister. Unter den 14 Trägern dieses Titels befanden sich gerade einmal fünf Vertreter sächsischer Adelsfamilien. Die übrigen stammten aus Dänemark, Pommern, Savoyen, den habsburgischen Erblanden und Frankreich. Der berühmte Graf Heinrich von Brühl (1700–1763) war Thüringer.

Auch wenn – wie wir gesehen haben – die Motive, mobile landfremde Adlige an den sächsischen Fürstenhof zu holen, unterschiedlich sein konnten, die Tatsache an sich war eben keineswegs ungewöhnlich. Sachsen war darin kein Einzelfall. Allenfalls im Ausmaß unterschied sich der kursächsisch-polnische Hof als der eines Kurfürsten und Königs von anderen Höfen des Reichs, nicht aber in seiner generellen personellen Zusammensetzung: Adlige aus vieler Herren Länder gehörten in jedem Fall zu einem fürstlichen Hofstaat dazu.

Zum Weiterlesen:

ARNOLD, Martin, Adel im sächsisch-böhmischen Grenzraum. Lebenswelten im Spannungsfeld konfessioneller und politischer Gegensätze, in: Martina Schattkowsky (Hg.), Das Erzgebirge im 16. Jahrhundert. Gestaltwandel einer Kulturlandschaft im Reformationszeitalter (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 44), Dresden 2013, S. 281-298.

HAAKE, Paul, Jacob Heinrich Graf von Flemming, in: Sächsische Lebensbilder, Bd. 2, Leipzig 1938, S. 150-160.

GÖSE, Frank, Rittergut – Garnison – Residenz. Studien zur Sozialstruktur und politischen Wirksamkeit des brandenburgischen Adels 1648–1763, Berlin 2005.

KELLER, Katrin, Der Hof als Zentrum adliger Existenz? Der Dresdner Hof und der sächsische Adel im 17. und 18. Jahrhundert. in: Ronald G. Asch (Hg.), Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (ca. 1600–1789), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 207-235.

SCHATTKOWSKY, Martina (Hg.), Die Familie von Bünau. Adelsherrschaften in Sachsen und Böhmen vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 27), Leipzig 2008.

 

Bild: Ansicht des Schlosses Weesenstein, Öl auf Leinwand, um 1750 (Quelle: Schloß Weesenstein).

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